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Ägyptologie-Seminare > Moby-Dick > 2 Autoren und Referenzspektrum

Herman Melvilles Moby-Dick und die Ägyptomanie der American Renaissance

Kurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
Veranstaltung im Kontaktstudium der Universität Hamburg im Sommersemester 2018

 

2 Altägyptische Motive bei den Autoren der American Renaissance und das Referenzspektrum in Melvilles Moby-Dick

Die Autoren der American Renaissance waren von der zu ihrer Zeit in Europa und Nordamerika herrschenden Ägyptomanie unterschiedlich stark beeinflusst. Bei manchen Autoren bzw. in manchen Werken entwickelten die altägyptischen Referenzen leitmotivischen Charakter, bei und in anderen wurden sie gezielt nur punktuell eingesetzt. Nachfolgend werden fünf Zeitgenossen Melvilles mit einem kurzen Werksauszug vorgestellt (im Seminar wurden ausführlicher je zwei Textbeispiele pro Autor besprochen), um einen Eindruck von der Vielschichtigkeit der altägyptischen Motive in der Literatur der American Renaissance zu bekommen. Anschließend folgt ein genauerer Blick auf Belegstellen in Melvilles Moby-Dick.

 

Walt Whitman, Lyriker (1819-1892)

Whitman gilt als einer der Begründer der modernen amerikanischen Lyrik und als einer der einflussreichsten Dichter des 19. Jahrhunderts. Sein Lebenswerk Leaves of Grass (Grashalme) erschien als Erstausgabe 1855 mit nur zwölf Gedichten, die neunte Fassung aus dem Jahr 1892, Whitmans Todesjahr, umfasste mehr als 400 Gedichte. Whitmans zentrale Themen sind Mensch, Demokratie und Natur. Sein Werk ist v. a. durch den Pantheismus und den Transzendentalismus geprägt.

Aus: „Salut au monde“ (Grashalme); Hervorhebungen sind meine

Ich sehe Ägypten und die Ägypter, die Pyramiden und Obelisken;
Ich betrachte die eingemeißelten Historien, Chroniken von siegreichen Königen und Dynastien, in Sandsteinplatten eingegraben oder in Granitblöcke;
In Mumiengräbern von Memphis sehe ich einbalsamierte Mumien, in leinene Bänder gewickelt, die viele Jahrhunderte dort gelegen haben;

Ich betrachte den gefallenen Thebaner; die großen Augäpfel, den auf die Seite geneigten Hals, die über die Brust gefalteten Hände.

Dieser Auszug aus Whitmans Gedicht „Salut au monde“ ist gespickt mit Verweisen auf das alte Ägypten, in schneller Folge werden ebenso illustrativ wie plakativ bekannte Höhepunkte der altägyptischen Kultur aufgezählt: „Pyramiden und Obelisken“ als weithin sichtbare und ehrfurchtgebietende Monumente der vergangenen Pracht des Pharaonenreiches, „Historien, Chroniken“ als Dokumente der eindrucksvollen Zeittiefe, die sich in ihnen festgehalten und für die Nachwelt bewahrt findet, „Mumiengräber“ und „Mumien“, die in ihrer Fremdartigkeit die Menschen der American Renaissance zutiefst faszinierten und sicher einer der Hauptgründe für die grassierende Ägyptomanie waren. Schließlich erwähnt Whitman „den gefallenen Thebaner“, vermutlich eine Anspielung auf eine der gestürzten Kolossalstatuen Ramses‘ II., die in ihrer Kombination aus Widerhall des alten Glanzes und Prunks der pharaonischen Herrschaft und der offensichtlichen Dokumentation ihrer Vergänglichkeit eine morbide Sehnsucht nach der Vergangenheit hervorrief. Es geht Whitman in seiner Zusammenschau weniger um eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Zeugnissen der altägyptischen Kultur, sondern vielmehr um ihre assoziative und emotionale Wirkung, von der er annehmen durfte, dass sie sie bei seinen Lesern auslösen würden.

 

Nathaniel Hawthorne, Schriftsteller (1804-1864)

Hawthorne wird häufig als Mitbegründer einer streng US-amerikanischen Nationalliteratur betrachtet. Nach ersten Misserfolgen konnte er – eine Besonderheit zu dieser Zeit – seinen Lebensunterhalt von seiner schriftstellerischen Tätigkeit bestreiten. Sein Hauptwerk Der scharlachrote Buchstabe (1850), ebenso wie sein gesamtes Werk, kreisen um die Themen Sünde, Schuld, Strafe, Intoleranz und Entfremdung. Zusammen mit Melville und Poe gehört Hawthorne zur sogenannten „dunklen“ amerikanischen Romantik. Melville widmete Moby-Dick dem von ihm bewunderten Schriftstellerkollegen und Freund.

Aus: Der scharlachrote Buchstabe, Kap. 19; Hervorhebungen sind meine

Mit einem Gefühl, welches keiner von beiden [Hester Prynne und Arthur Dimmesdale, örtlicher Pfarrer und heimlicher Geliebter Hesters] bisher empfunden hatte, saßen sie und betrachteten die langsam näherkommende Pearl. In ihr [der illegitimen Tochter der beiden Hauptfiguren] war das Band, welches sie verknüpfte, sichtbar. Sie war seit sieben Jahren der Welt als die lebende Hieroglyphenschrift dargeboten worden, in welcher sich das Geheimnis, das sie so eifrig zu verbergen suchten, offenbarte, in diesem Symbol war alles geschrieben, alles offenkundig – wenn es einen Propheten oder Zauberer gegeben hätte, der imstande gewesen wäre, die Flammenzeichen zu lesen.

Hawthorne nutzt den Begriff „Hieroglyphenschrift“, um eine ganze Kette von Assoziationen und tradierten Ansichten wachzurufen. Obwohl die Hieroglyphen zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans bereits seit mehr als 25 Jahren entziffert waren, hielt sich – und dies gilt bis heute – ihre umgangssprachliche Bedeutung als verschlüsselte, unzugängliche Geheimschrift. Deutlich wird dies im obigen Zitat an der synonymhaften Verwendung des Begriffes „Symbol“, bei dem es sich definitionsgemäß um einen Anschauungswert handelt, der für einen anderen steht – wofür genau, ist häufig nur Eingeweihten bekannt. Interessant ist, dass Hawthorne dem Leser allein durch die Beschreibung Pearls als „lebende Hieroglyphenschrift“ vermittelt, dass das Geheimnis, das Pearls Eltern zu verbergen suchen, eigentlich offen vor aller Augen steht, aber dennoch ungelüftet bleibt. Dies ist vergleichbar mit den sich über viele Jahrhunderte erstreckenden Versuchen, die altägyptischen Schriftzeichen zu entziffern; die Deutungsversuche basierten in der Regel darauf, dass den als Bildern missverstandenen Zeichen komplexe Inhalte zugewiesen wurden, wodurch Leseversuche mehr zu einer Bildinterpretation als zu einem tatsächlichen Lesen wurden. Erst der Franzose Jean-François Champollion und der Engländer Thomas Young erkannten, dass die Hieroglyphen tatsächlich als phonetische Zeichen zu lesen sind. Auf dieser Grundlage gelang Champollion 1822 die Entzifferung der Hieroglyphenschrift. Pearl, die uneheliche Tochter der Liebenden, ist somit Geheimnis und (noch nicht erfolgte) Offenbarung in einem.

 

Edgar Allan Poe, Schriftsteller (1809-1849)

Poe prägte die literarische Gattung der Kurzgeschichte sowie die Genres Kriminalliteratur, phantastische Literatur und Gothic Novel. Seine Lyrik („Der Rabe“) hatte maßgeblichen Einfluss auf den Symbolismus und die moderne Dichtung. Bekannt ist Poe heute jedoch v. a. als Autor von Gruselgeschichten, so z. B., „Der Untergang des Hauses Usher“ oder „Das verräterische Herz“. Seine zentralen Themen sind die Verquickung von Liebe und Tod, das Motiv der Queste und phantastische Kriminalgeschichten. Geprägt war Poe durch den englischen Lyriker Lord Byron und sein Interesse für (Natur-)Wissenschaften, das sich in vielen seiner Texte widerspiegelt.

Aus: Gespräch mit einer Mumie (1845)

„Mein lieber, guter Freund! Kommen Sie, sobald Sie diesen Brief erhalten haben, sofort zu mir. Kommen Sie, und freuen Sie sich mit uns! Endlich ist es unseren diplomatischen Künsten gelungen, dem Direktor des städtischen Museums die Einwilligung zur Untersuchung der Mumie [...] abzulocken. Ich habe die Erlaubnis erwirkt, sie loswickeln und, wenn nötig, sogar öffnen zu lassen. Dies soll denn auch in Gegenwart einiger Freunde geschehen – Sie werden natürlich auch kommen [...]? Die Mumie befindet sich schon in meinem Hause, und gegen elf Uhr heute Abend wollen wir mit der Loswickelung beginnen.“
[....]
Die Mumie öffnete zunächst ihre Augen und blinzelte ein paar Minuten lang heftig mit den Lidern, darauf nieste sie und richtete sich auf. Dann ballte sie [...] eine Faust, wandte sich an die Herren Gliddon und Silk Buckingham und richtete in ausgezeichnetem Ägyptisch folgende Worte an sie: „Ich muss gestehen, meine Herren, dass mich Ihr Benehmen in gleichem Maße überrascht und kränkt.“

In seiner satirischen Kurzgeschichte „Gespräch mit einer Mumie“ nimmt Poe den Fortschrittsglauben und die damit verbundene Eitelkeit seiner Zeitgenossen aufs Korn. Die Geschichte beginnt damit, dass der Ich-Erzähler einer Einladung seines Freundes Dr. Ponnonner folgt und der Auswicklung einer altägyptischen Mumie in dessen Haus beiwohnt. Solche Unwrapping Parties waren in der damaligen Zeit nicht ungewöhnlich, im Zuge der Ägyptomanie waren ethisch-moralische Grenzen durchlässiger oder gar nicht vorhanden. Nachdem die ausgewickelte Mumie probehalter mit Elektroschocks behandelt wurde, erwacht sie zur Überraschung aller Anwesenden zum Leben. Es entspinnt sich ein ebenso grotesk-unterhaltsamer wie von den Figuren ernsthaft geführter Dialog darüber, welche Zeit – die altägyptische oder die des 19. Jahrhunderts – die fortschrittlichere (gewesen) sei. Der Mumie gelingt es dabei mühelos, alle Errungenschaften der Moderne zu relativieren: Auch im alten Ägypten habe man schon Gestirnsverfinsterungen voraussagen können und die Dampfkraft genutzt. Die altägyptischen Paläste und Tempel seien größer und eindrucksvoller gewesen als das amerikanische Kapitol und das politische System der Vereinigten Staaten, auf das die Anwesenden besonders stolz sind, sei bereits von den alten Ägyptern erprobt worden. Erst als Dr. Ponnonner sich erkundigt, ob die alten Ägypter denn auch „Doktor Ponnonners Pastillen“ gekannt hätten, muss die Mumie verschämt kleinbeigeben. Poe gelingt es mit seiner humorvollen und spitzzüngigen Geschichte, seiner Zeit einen Spiegel vorzuhalten. Die literarische Situation, die er dafür nutzt, ist zwar grundsätzlich der Wirklichkeit abgeschaut, aber zugleich so absurd überspitzt, dass die gesellschaftliche Kritik auch für den zeitgenössischen Leser vermutlich weitestgehend tolerierbar blieb. Der Einbruch des Phantastischen in das Alltägliche wird dabei derartig beiläufig und selbstverständlich präsentiert, dass das Hauptaugenmerk des Lesers tatsächlich auf der inhaltlichen Auseinandersetzung der Figuren und weniger auf der bemerkenswerten Tatsache liegt, dass eine altägyptische Mumie auf einer Dinnerparty zum Leben erweckt wird. Geschickt versteht Poe es, ein gesellschaftliches emotional-intellektuelles Interesse zu instrumentalisieren, um Vergangenheit und Gegenwart zu kontrastieren und seine Mitmenschen und ihre Gepflogenheiten humorvoll vorzuführen.

 

Ralph Waldo Emerson, Philosoph und Schriftsteller (1803-1882)

Emerson studierte in Harvard und war anschließend als Pastor tätig. Später kehrte er sich von der traditionellen Liturgie ab und legte sein Amt nieder. Ein Nachklang dieses Lebensabschnitts ist jedoch sicherlich in dem spirituellen Naturempfinden zu sehen, das kennzeichnend für Emersons Texte ist. Sein Hauptwerk ist die Essaysammlung Nature (1836), in der die Natur als Quelle göttlicher Offenbarung charakterisiert wird. Der Transzendentalismus erweist sich als Leitfaden in Emersons Arbeiten, in denen er immer wieder die transzendentalistische Triade aus Selbst, Natur und Überseele thematisiert. Eine seiner Kernaussage lautet: „Build, therefore, your own world.“

Aus: Natur (1836); Hervorhebungen sind meine

Das Befinden eines jeden Menschen ist die in Hieroglyphen verfasste Antwort auf die Fragen, die er stellt.

Um Emersons Aussage besser zu verstehen, lohnt es, sich die einzelnen Sinnabschnitte genauer vor Augen zu führen: Emerson geht davon aus, dass jeder Mensch Fragen stellt. Die Antwort setzt er mit dem (jeweiligen) menschlichen „Befinden“ gleich: „Das Befinden [...] ist die [...] Antwort“. Es ist also eine emotionale Verfasstheit, nicht eine faktische Aussage, die nach Emerson die nicht näher bestimmten und damit sehr pauschal aufzufassenden Fragen beantwortet. Das Befinden artikuliert sich jedoch nicht klar verständlich, sondern ist „in Hieroglyphen verfasst[]“. Daraus lassen sich zwei Aussageintentionen ableiten: Werden die Hieroglyphen erstens als kryptische Geheimschrift oder hochkomplexe Bilderschrift mit variablen Bildaussagen interpretiert (Hieroglyphenmythos), so ergibt sich, dass die Antworten, von denen Emerson spricht, nicht nur grundsätzlich individuell verschieden sind, sondern auch in hohem Maße Deutungsspielräume für das Individuum bieten. Basiert Emersons Aussage hingegen auf dem Bewusstsein, dass gut zehn Jahre vor Erscheinen von Nature die Hieroglyphen entziffert wurden, so ergäbe sich eine Vereindeutigung der Antwortaussage, deren Verständnis jedoch von der Notwendigkeit der korrekten Übersetzung abhinge, die aufgrund mangelnder Fachkenntnis allerdings nicht jedem möglich ist, so dass – ähnlich wie oben bei Hawthorne – eine offen zugängliche Erkenntnis durch den Schwierigkeitsgrad ihrer Entschlüsselung entfällt.

 

Emily Dickinson, Lyrikerin (1830-1886)

Dickinson gilt als Wegbereiterin und Vorbotin der Lyrik des 20. Jahrhunderts. In ihren Gedichten brach sie bewusst mit klassischen Formen und fand eine neue Ausdrucksweise. Von ihren insgesamt 1775 Gedichten wurden nur sieben zu Lebzeiten veröffentlicht. Bis heute erschwert der ihr Werk durchziehende Mangel an autorisierten Endfassungen die Deutung ihrer Texte. Zu den zentralen Themen ihrer Lyrik zählen Natur, Liebe, Tod, Unsterblichkeit, Entsagung, Verzicht, Transzendenz und Religion.

Aus: Gedichte; Hervorhebungen sind meine

Kühle uns ab zu granitenen Schäften —
Mit nur einem Alter — einem Namen —
Und vielleicht einem Satz auf Ägyptisch —
Es ist weiser — zu träumen

In der letzten von vier Strophen dieses Gedichtes spricht das lyrische Ich ein nicht näher bestimmtes Gegenüber an. Die ersten drei Zeilen formulieren eine Bitte oder Aufforderung, während die abschließende Zeile eine Aussage trifft, die offenbar der Erkenntnis des lyrischen Ichs entstammt. In seiner Vorstellung bedeutet das Sterben eines Menschen (das Abkühlen verweist auf den Verlust der Körperwärme nach Eintritt des Todes) die Reduktion auf die „granitenen Schäfte“, mit denen vermutlich Grabsteine gemeint sind. Der Tod ist also eine Transformation vom Warm-Lebendigen hin zum Kühl-Unbelebten. Was bleibt sind die elementaren persönlichen Daten, bestehend aus „einem Alter — einem Namen“. Doch etwas Besonderes kommt noch hinzu, ist Teil des formulierten Wunsches: Die Daten mögen von „vielleicht einem Satz auf Ägyptisch“ begleitet werden. Das lyrische Ich weiß offenbar um das Ungewöhnliche dieser Bitte, setzt daher ein schüchternes „vielleicht“ an den Anfang, um nicht zu fordernd zu wirken. Warum aber gerade ein „Satz auf Ägyptisch“? Möglicherweise ist auch bei Dickinson die Verwendung des Hieroglyphenmotivs ein Kunstgriff, um kondensiert an diesem Begriff das Streben nach Offenbarung und gleichzeitig Verschleierung auszudrücken. Das lyrische Ich möchte nicht auf Namen und Alter reduziert sein, es möchte mehr (von sich) erhalten wissen, doch nicht zu offensichtlich, nicht für jedermann erkennbar. Nur die Vertrauten, nur die Eingeweihten sollen diesen Teil der Inschrift entziffern können, um so dem lyrischen Ich näher zu sein.

 

Herman Melville, Schriftsteller (1819-1891)

1842-47 erlebt der junge Melville abenteuerliche Jahre als Schiffsjunge, Matrose und Steuermann. Seine Erlebnisse verarbeitete er literarisch: Seine Romane Taipi (1846) und Omu (1847) waren große Erfolge. Mit der Abkehr vom Erlebnisroman verlor Melville jedoch seine Leserschaft. Von dem 1851 erschienenen Moby-Dick; oder: der Wal wurden zu Melvilles Lebzeiten nur etwa 3000 Exemplare verkauft. Die Wiederentdeckung des Werkes erfolgte erst in den 1920er Jahren. Seitdem gilt Moby-Dick als eines der wichtigsten Werke der Weltliteratur.

Um einen entscheidenden Unterschied zwischen Melvilles Umgang mit altägyptischen Motiven und dem seiner zeitgenössischen Autorenkollegen sichtbar zu machen, bietet sich der Vergleich der beiden folgenden Textstellen aus Moby-Dick an (Hervorhebungen sind meine):

Champollion entzifferte die runzligen granitenen Hieroglyphen. Doch es gibt keinen Champollion, um das Ägypten von jedes Menschen und jedes Wesens Antlitz zu entziffern. (Kap. 79, Die Prärie)

„Doch habe ich keinen Schlüssel, um mein Herz, dies alles kontrollierende Gewicht, wieder anzuheben.“ (Starbuck in Kap. 38, Dämmerung)

Während das erste Zitat gleich mehrere explizite Verweise auf den altägyptischen Kulturkreis enthält (zweimal Champollion, Hieroglyphen, Ägypten), scheinen diese im zweiten Zitat zu fehlen. Tatsächlich ist jedoch ein deutlicher entsprechender Verweis vorhanden, allerdings kommt er nur implizit zum Ausdruck. Ich spreche daher bei der Analyse des Primärtextes von Primär- und Sekundärreferenzen, wobei das erste Zitat ein Beispiel für eine Primärreferenz ist, in der der Bezug zum alten Ägypten explizit formuliert wird. Das zweite Zitat ist ein Beispiel für eine Sekundärreferenz, in der der Bezug zum alten Ägypten nur implizit formuliert wird und die i.d.R. nur aufgrund ägyptologischer Vorkenntnisse erschlossen werden kann (angespielt wird hier auf die berühmte Wägung des Herzens im Gerichtshof des Totengottes Osiris, bei der das Herz des Verstorbenen gegen die Feder der Ma‘at aufgewogen wird, welche die gerechte Weltordnung versinnbildlicht; wurde das Herz für zu schwer befunden, fiel der Verstorbene unwiederbringlich dem Tod anheim und blieb von einem Weiterleben im paradiesischen Jenseits ausgeschlossen).

Das Vorhandensein der Primärreferenzen erklärt sich dabei u. a. aus dem Zeitgeist der American Renaissance, während das Vorhandensein der Sekundärreferenzen auf eine sehr viel weiterreichendere Bedeutung der altägyptischen Mythologie für Melvilles Text schließen lässt als für die Werke seiner Zeitgenossen. Moby-Dick umfasst 26 Primär- und mindestens 45 Sekundärreferenzen. Bei einem Textumfang von 470 Seiten (A Norton Critical Edition, New York: Norton, 1967) bedeutet dies, dass im Schnitt alle sechs bis sieben Seiten eine Referenz auf das alte Ägypten zu finden ist – eine erstaunlich hohe Zahl für einen Roman, der auf den ersten Blick scheinbar „nur“ eine amerikanische Walfängergeschichte erzählt! Diese eindrucksvolle Quantität sowie die obigen inhaltlichen Überlegungen machen deutlich, dass die altägyptische Motivik von besonderer Bedeutung für Inhalt, Struktur und Verständnis von Moby-Dick ist.

 

 

Weiterführende Literatur

Schmidt, K., Melvilles Moby-Dick als altägyptische Seelenreise
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-18174-4

Schmidt, K., Altägyptische Motive in Herman Melvilles Moby-Dick
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-16374-0

 

⇒ 3 Figuren und Figurenkonstellationen in Moby-Dick und in der altägyptischen Mythologie