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Ägyptologie-Seminare > Moby-Dick > 4 Die Fahrt der Pequod

Herman Melvilles Moby-Dick und die Ägyptomanie der American Renaissance

Kurzzusammenfassung zur Seminarnachbereitung
Veranstaltung im Kontaktstudium der Universität Hamburg im Sommersemester 2018

 

4 Die Fahrt der Pequod: Eine Reise durch die altägyptische Unterwelt

Im Neuen Reich lässt sich die Dat, das altägyptische Jenseits, als eine unterirdisch gelegene Spiegelwelt des Diesseits vorstellen. Eingang erlangte, wer ein Ma‘at-gerechtes Leben geführt und die Prüfung vor dem Totengericht des Osiris bestanden hatte. Der selige Verstorbene durfte sich auf die Versorgung all seiner Bedürfnisse freuen, für den Verdammten hingegen war die Dat ein höllenähnlicher Strafraum.

 

Lokalisation

Die Lokalisierung der Dat veränderte sich im Laufe des Pharaonenreiches. Ursache dafür waren vermutlich sich wandelnde mythologisch-religiöse Schwerpunkte und die Bedeutung der damit verbundenen Götter. Ältere Jenseitsvorstellungen wurden i.d.R. nicht verdrängt, sondern durchdringen auch die jüngeren Vorstellungen. Eine grobe Unterteilung lässt sich entlang der drei großen Reiche des alten Ägypten erstellen (Tab. 1).

 

Tab. 1 Lokalisierung und Charakteristika des altägyptischen Jenseits im Alten, Mittleren und Neuen Reich

 

Jede der drei Jenseitsvorstellungen findet auch in Moby-Dick ein Echo. Nachfolgend werden zu jedem Konzept ausgewählte Textbeispiele vorgestellt, die jeweils sowohl die „Lokalisierung“ als auch die „Quellen“ der obigen Tabelle abdecken und illustrieren, dass im Primärtext die Jenseitsvorstellungen des Alten, Mittleren und Neuen Reiches zusammenfließen. Diese additive Vermischung der Vorstellungen findet sich auch im alten Ägypten selbst, s. o.

stellares Jenseitskonzept des Alten Reiches

Welch feine frostige Nacht; wie der Orion glitzert, was für nördliche Lichter! (Kap. 2, Die Reisetasche)

Der Verweis auf „nördliche Lichter“ sowie das Sternbild Orion, das im alten Ägypten mit dem Totengott Osiris identifiziert wurde, bilden im Kontext einer altägyptischen Sicht auf den Primärtext eine klare Referenz auf das stellare Jenseits des Alten Reiches. Die im Norden stehenden Zirkumpolarsterne entsprechen den „unvergänglichen Sternen“ des altägyptischen Konzeptes. Aus der Tatsache, dass diese Sterne niemals unter die Horizontlinie sanken, folgerten die alten Ägypter, dass die in ihnen verkörperten Götter unsterblich seien.

Diese [Zeichnungen auf der Haut des Wals] sind hieroglyphisch; das heißt, wenn man jene mysteriösen Geheimschriften an den Wänden von Pyramiden Hieroglyphen nennt. (Kap. 68, Die Decke)

Die „mysteriösen Geheimschriften an den Wänden von Pyramiden“ beziehen sich auf die an den Wänden der Unas-Pyramide gefundenen sogenannten Pyramidentexte (König Unas war ein Herrscher der 5. Dynastie und regierte von 2375-2345 v. Chr.). Es handelt sich dabei um die ältesten bekannten religiösen Texte der Menschheit.

solares Jenseitskonzept des Mittleren Reiches

Einst sah ich eine große Walherde im Osten, alle der Sonne zugewandt, und für einen Augenblick erzitterten ihre aufgestellten Schwänze wie in einem Konzert. Damals schien mir, dass eine derartig großartige Verehrung der Götter niemals zuvor gesehen ward [...]. (Kap. 86, Der Schwanz)

Die Orientierung der Herde nach Osten und ihr von Ishmael als Gottesverehrung interpretiertes Verhalten übersetzen das altägyptische Bild der Sonnenpaviane in den modernen, maritimen Kontext: Die Paviane begrüßen am Morgen den verjüngt aus der Unterwelt aufsteigenden Sonnengott mit ihrem Jubel, der sich im Bild im Gestus der nach oben gerichteten Arme ausdrückt (vgl. aufgestellte Schwänze der Wale).

Viele freie Stunden brachte er [Queequeg] damit zu, den Deckel mit allerlei Arten von grotesken Gestalten und Bildern zu beschnitzen; und es schien, dass er hierdurch [...] Teile der verschlungenen Tätowierungen auf seinem Körper zu kopieren suchte. Und diese [...] waren das Werk eines verblichenen Propheten oder Sehers seiner Insel gewesen, welcher vermöge dieser hieroglyphischen Zeichen [...] eine vollständige Theorie von den Himmeln und der Erde angefertigt hatte [...]. (Kap. 100, Queequeg in seinem Sarg)

Die Verzierung von Holzsarkophagen mit Bild- und Textkompositionen ist eine typische Ausdrucksform des Toten- und Jenseitsglaubens im Mittleren Reich. Von ihr leitet sich der Begriff „Sargtexte“ ab, der das Korpus der Jenseitstexte dieser Zeit meint. Ziel der Texte war es, den Verstorbenen sicher durch das Jenseits zu führen und ihn umfassend über die Eigenarten und die Beschaffenheit dieser Welt zu informieren.

chthonisches Jenseitskonzept des Neuen Reiches

„Seinen [Ahabs] himmelsbeleidigenden Vorsatz mag Gott fortschlagen. Ich würde mein Herz erheben, wäre es nicht wie Blei. Doch meine Uhr ist abgelaufen; ich habe keinen Schlüssel, um mein Herz, dies alles kontrollierende Gewicht, wieder anzuheben.“ (Starbuck in Kap. 38, Dämmerung)

Das Bildmotiv, das Starbuck in seiner Aussage verwendet, hat seinen Ursprung in der Ikonographie des Neuen Reiches. Diese ist von der Idee der Wägung des Herzens vor dem unterweltlichen Totengericht geprägt, dessen Vorsitzender der Totengott Osiris ist. Das Herz wird dabei gegen die Feder der Göttin Ma‘at aufgewogen, welche die gerechte Weltordnung versinnbildlicht. Wurde es für zu schwer befunden, fiel der Verstorbene unwiederbringlich dem zweiten Tod anheim und blieb von einem Weiterleben im paradiesischen Jenseits ausgeschlossen. Starbucks resignierende Aussage ist folglich so zu verstehen, dass er davon überzeugt ist, dass es für ihn keine Rettung mehr gibt – weder im Diesseits, noch im Jenseits.

Weiter befördert wird das Jenseitsbild des Neuen Reiches z. B. durch Bezugnahmen auf die unter Deck gelegenen Kabinen Ahabs und der Mannschaft:

„Hinunter in dein nächtliches Grab“ [Ahab zu Stubb] (Kap. 29, Auftritt Ahab; zu ihm, Stubb)

Die isolierte Unterweltlichkeit der Kabine ließ dort ein klingendes Schweigen herrschen (Kap. 123, Die Muskete)

Einzeln ebenso wie zusammengenommen ergeben beide Zitate einen deutlichen Hinweis auf das Jenseitskonzept des Neuen Reiches, in dem die Dat zum einen in der Unterwelt lokalisiert und zum anderen als „Land des Schweigens“ bezeichnet wurde.

Die Entsprechung des Textkorpus des Neuen Reiches findet sich nicht textintern, sondern wird vielmehr durch das Werk Moby-Dick selbst verkörpert. In ihm wird auf der hier vorgestellten mythologischen Textebene eine moderne Version der Fahrt des Sonnengottes (eines der Rollenvorbilder Ahabs) durch die Gefilde der Dat geschildert. Um Gleiches bemühte sich die Jenseitsliteratur des Neuen Reiches, die z. B. in dem Unterweltsbuch Amduat detailliert die Jenseitsfahrt des Schöpfergottes beschreibt.

 

Die Fahrt des Sonnengottes

Die Fahrt des Sonnengottes Re über den Taghimmel und durch die Unterwelt formte das kosmische Weltbild der alten Ägypter des Neuen Reiches. Während die Tagfahrt ein Triumphzug des starken, mächtigen Re war, stand die Nachtfahrt ganz im Zeichen der Regeneration und Erneuerung, die der Sonnengott nur in der jenseitigen Unterwelt, durch die Verschmelzung mit dem Totengott Osiris und den Kontakt mit dem ungestalteten Urgrund der Schöpfung, erlangen konnte (Abb. 1). Die alten Ägypter unterschieden im Verlauf dieser Fahrt zwischen im Wesentlichen vier Erscheinungsformen des Sonnengottes: dem morgendlichen Chepri-Käfer (ein Symbol der Wiedergeburt), dem falkenköpfigen Herrscher der Mittagszeit, dem gealterten Atum am Abend und in den ersten Stunden der Nachtfahrt und schließlich dem vereinigten Re-Osiris, der das zentrale Wunder im Herzen der altägyptischen Religion verkörpert, den Moment der Erneuerung von sowohl Schöpfergott als auch Schöpfung.

 

Abb. 1 Die Tag- und Nachtfahrt des Sonnengottes mit seinen verschiedenen Erscheinungsformen als Chepri (Morgen/Osten), Re (Zenit) und Atum (Abend/Westen). In der Nacht durchfährt der Sonnengott das unterirdische Jenseits, wo er sich durch die Vereinigung mit dem Totengott Osiris (unten) verjüngt und erneuert. Grafik: KL

 

Melville gelingt in Moby-Dick eine adäquate Übersetzung der mythologischen Vorlagen, ohne dabei seine realhistorisch mögliche Geschichte aus den Augen zu verlieren. Der realistisch anmutende Handlungsraum verschmilzt subtil mit dem mythologischen und erlaubt dem Leser ohne Brüche den Wechsel zwischen beiden Sphären. Nachfolgend werden am Beispiel der Tag- und Nachtfahrt des Sonnengottes ausgewählte Textpassagen vorgestellt.

Der morgendliche Sonnengott

Der Aufgang des Sonnengottes aus dem unterirdischen Jenseits wird jeden Morgen vom Lobpreis der Sonnenpaviane begleitet, die den verjüngten Gott willkommen heißen und darüber jubeln, dass mit seiner Rückkehr die Chaosmächte einmal mehr gebannt sind und die gesamte Schöpfung neu geboren ist. Dieses Bild wird, wie oben bereits ausgeführt, in Moby-Dick in den maritimen Kontext übersetzt, wobei Wale die Rolle der Sonnenpaviane übernehmen.

Einst sah ich eine große Walherde im Osten, alle der Sonne zugewandt, und für einen Augenblick erzitterten ihre aufgestellten Schwänze wie in einem Konzert. Damals schien mir, dass eine derartig großartige Verehrung der Götter niemals zuvor gesehen ward [...]. (Kap. 86, Der Schwanz)

Auf die Idee der morgendlichen Wiedergeburt und damit des täglichen Neubeginns der Schöpfung wird in Moby-Dick vielfach zugegriffen. In Kapitel 135, „Die Jagd – Der dritte Tag“, klingt darüber hinaus unterschwellig auch die Vorstellung der Zirkularität der Zeit (s. 5. Doppelstunde „Zeit und Raum“) an.

„Wär‘ es eine neu erschaffene Welt [...], und dieser Morgen der erste, der [...] die Tore zu ihr öffnet, ein schönerer Tag könnte dieser Welt nicht heraufdämmern.“ (Ahab in Kap. 135, Die Jagd – Dritter Tag)

Der Sonnengott zur Mittagszeit

Zur Mittagszeit befindet sich der Sonnengott auf dem Höhepunkt seiner Macht und triumphiert über seine Feinde. Dieser Klimax herrschaftlicher Macht findet in Moby-Dick seinen Widerhall in der Geschichte der Samuel Enderby (Kap. 100, Arm und Bein), die sich als Geschichte in der Geschichte erweist. Sie bietet eine Parallele und zugleich einen Gegenentwurf zum Geschick Ahabs. Der Kapitän der Samuel Enderby, der wie Ahab im Kampf mit dem weißen Wal eine Gliedmaße verloren hat (ein Arm, während Ahab ein Bein verloren hat) und sich ebenfalls eine Prothese aus einem Pottwalknochen hat anfertigen lassen, beschreitet einen anderen Weg als der monomane Ahab: Er lässt von der weiteren Jagd ab. „Ich war blind wie eine Fledermaus“, berichtet der Kapitän der Enderby. „Ich tastete umher am hellichten Mittag, mit einer blendenden Sonne“ (Kap. 100, Arm und Bein). Diese Passage ist im Vergleich mit einer Aussage Ahabs von besonderem Interesse: „Dieses liebliche Licht, es leuchtet mir nicht [mehr]“ (Ahab in Kap. 37, Sonnenuntergang). Beide Kapitäne beklagen den Verlust des (Augen-)Lichts, doch während die Dunkelheit für den Kapitän der Enderby nur vorübergehend ist, ist sie für Ahab von Dauer. Ahabs Entscheidung, den weißen Wal weiter zu jagen, endet in Vernichtung und Untergang statt in Ko-Existenz, wie der Kapitän der Enderby sie gewählt hat.

Der Sonnengott am Abend

Am Abend steigt der gealterte Sonnengott zum westlichen Horizont hinab und begibt sich in das unterweltliche Totenreich des Osiris. Im folgenden Textbeispiel aus Moby-Dick wird zum einen die besondere und enge Beziehung zwischen der Spezies Wal und der Sonne unterstrichen, zum anderen wird durch die Wahl des Wortes „zusammen“ die Identität ihres Schicksals nahegelegt.

Sonne und Wal, im lieblichen abendgeröteten Meer und Himmel dahintreibend, [waren] beide still zusammen gestorben; [...]. (Kap. 116, Der sterbende Wal)

Die Egalisierung von Gewässer und Himmel ist ebenfalls aus der altägyptischen Mythologie vertraut, wo der Himmel als Entsprechung des irdischen Nil angesehen wird. Mit seinem Tod tritt der ergreiste Sonnengott in den Nachtteil seiner zyklischen Fahrt ein, der in seiner Regeneration in der Unterwelt kulminiert.

Die Nachtfahrt des Sonnengottes

In der altägyptischen Mythologie wird der Tod als Übergangsritus erfahren. Die alten Ägypter bemühten sich daher nicht um eine Überwindung des Todes, sondern er war vielmehr die Passage zum angestrebten Ziel des irdischen Lebens und die eigentliche Verwirklichung der Existenz. Die Nachtfahrt des Sonnengottes formuliert im Neuen Reich in den sogenannten Unterweltsbüchern den allnächtlichen Abstieg des Gottes in das unterirdische Totenreich in einer Stringenz und Detailfülle, die es bislang in den Totentexten nicht gegeben hatte. Am tiefsten und dunkelsten Punkt des Jenseits vollzieht sich das Geheimnis der Erneuerung, Grundlage der Neugeburt des Gottes am folgenden Morgen. Mit ihm erneuert sich auch seine Schöpfung. Das ungeordnete Chaos, das diese von allen Seiten umgibt, bedroht die Fahrt des Gottes. Hier wird das Bild des Todes als Feind in Gestalt des Wasserdrachen Apophis erkennbar, der immer wieder versucht, die Barke des Sonnengottes zum Stillstand zu bringen und so die Schöpfung zu vernichten, da dieser als kontinuierlicher Prozess gedachte Zustand nur durch die kontinuierliche Bewegung des Schöpfers durch Raum und Zeit erhalten bleibt. Im Amduat, dem prägenden Jenseitstext des Neuen Reiches, überwiegt neben der Schilderung dieser Gefahren jedoch der positive Aspekt der Nachtfahrt: die Regeneration und Erneuerung der Schöpfungskraft. Schwellenwächter fungieren immer wieder als Prüfstationen für die Verstorbenen: Nur wer über das benötigte Wissen verfügt, kann sie gefahrlos passieren. In diesem Kontext ist interessant, dass Ahab mehrfach seinen Unmut und seinen Zorn darüber zum Ausdruck bringt, dass ihm der Zugang zu gottgleichem Wissen fehle, so z. B. in Kapitel 118, „Der Quadrant“: „In diesem Augenblick musst Du [die Sonne] ihn [Moby Dick] sehen. Diese meine Augen sehen in eben das Auge, das ihn ansieht; aye, und in das Auge, das gerade jetzt gleichermaßen die Dinge auf der unbekannten, dortigen Seite von Dir erblickt, Du Sonne!“

Stationen der Nachtfahrt des Sonnengottes – Textbeispiele für die Umsetzung in Moby-Dick

Die 1. Nachtstunde wird im Amduat ebenso wie in dem etwas jüngeren sogenannten Pfortenbuch als ein Zwischenreich beschrieben, dass der Sonnengott durchqueren muss, bevor er mit seinem Gefolge tatsächlich in die Finsternis der Unterwelt eintaucht. Am Ende dieses ersten Abschnittes seiner nächtlichen Reise wird dem Sonnengott zugerufen: „Aufgetan sind Dir die Türflügel!“
Vgl. in Moby-Dick am Ende des ersten Kapitels:

Die großen Schleusentore der Wunderwelt schwangen auf, [...]. (Kap. 1, Luftspiegelungen)

In der 2. Nachtstunde des Amduat fährt der Sonnengott durch die Wernesgefilde, das elysische Paradies des altägyptischen Jenseits: Hier gibt es goldene, üppige Getreidefelder, die immer reiche Ernte erbringen und die Versorgung und das Wohlergehen der Verstorbenen sicherstellen.
Vgl. in Moby-Dick:

[...] nordostwärts steuernd, stießen wir auf gewaltige Wiesen von Krill, jenem winzigen gelben Stoff, von welchem sich der Glattwal hauptsächlich ernährt. Meilen um Meilen umwogte er uns, so dass wir grenzenlose Felder von reifem und goldenem Weizen zu durchsegeln schienen. (Kap. 58, Krill)

In der 6. Nachtstunde des Amduat erreicht der Sonnengott den tiefsten Punkt der Dat, wo sich seine allnächtliche Erneuerung als größtes Geheimnis der altägyptischen Religion vollzieht. Die Regeneration speist sich zum einen aus der Vereinigung des Schöpfergottes mit dem Totengott Osiris, zum anderen aus dem Kontakt mit dem uranfänglichen Chaos, das in der Unterwelt in Form von Schlangendämonen und dem Urgewässer Nun gegenwärtig ist. Die Nachtfahrt kann in dieser Hinsicht als Abtauchen in und anschließenden Aufstieg aus dieser Tiefe verstanden werden, die im Figurenkanon von Moby-Dick eine überzeugende neue Umsetzung erfährt, die sowohl dem mythischen als auch dem fiktiv-realistischen Anspruch des Primärtextes gerecht wird. Mit einem Harpunenseil an den weißen Wal gebunden führt Ahabs Tod diesen am Ende des Primärtextes hinab in die dunkle Tiefe des Meeres, das als Entsprechung der altägyptischen Dat fungiert und bereits im vorherigen Textverlauf als solche etabliert wurde.

Das Wiederaufauchen aus den Tiefen und der Finsternis der Unterwelt wird im Amduat in der 12. Nachtstunde beschrieben. In Moby-Dick ist diese geheimnisvolle Gegenbewegung, die der Kerngedanke der altägyptischen Mythologie ist, scheinbar eine zweiteilige, denn sowohl der Ich-Erzähler Ishmael als auch der Sarg Queequegs steigen nach dem Untergang der Pequod aus der Tiefe auf (vgl. die Vorbereitung dieser Szene in Kap. 72, Der Affentamp). Es handelt sich bei genauerer Betrachtung um eine Verschmelzung Ishmaels und Queequegs, die im Primärtext sorgfältig vorbereitet wurde und die nun hier zum Tragen kommt. Die kontrapunktische Bewegung zu Ahab bildet den altägyptischen Moment der Verjüngung ab (Abb. 2). Melville gelingt es auf diese Weise, das mythologische Motiv der Erneuerung des Sonnengottes in den Kontext des Primärtextes zu übersetzen, obwohl dieser aufgrund seines Figuren- und Handlungsraumrepertoires trotz seiner durchgehend mythisch gestalteten Handlung den Erhalt eines realhistorisch möglichen Handlungsverlaufes erforderlich macht.

 

Abb. 2 Kreisbewegung im letzten Kapitel und im Epilog des Primärtextes: Ahabs Untergang wandelt sich in Ishmaels Aufstieg. Der Ich-Erzähler nimmt dabei nicht nur die Figur Queequegs in sich auf (symbolisiert durch dessen Sarg), sondern auch die des ebenfalls in der Tiefe versunkenen Ahab. Der weiße Wal bewegt sich im gesamten Handlungsverlauf frei zwischen den Ebenen. Grafik: KL

 

 

Paradies und Verdammnis

Die altägyptische Dat ist zugleich Paradies und höllenartiger Strafort. In welchen dieser beiden Bereiche, die oft unmittelbar aneinander grenzen, der Verstorbene gelangt, hängt vom Urteil des Totengerichts ab. Viele Strafformen, die sich in den Text- und Bildkompositionen des Amduat und anderer Unterweltsbücher ausgestaltet finden, waren prägend für Stationen des christlichen Fegefeuers und der Höllenvorstellungen.

Textbeispiel: Ahab, Verdammnis (Hervorhebungen sind meine)

„Oh! Es gab eine Zeit, als der Sonnenaufgang mich edel anspornte, so wie der Sonnenuntergang mich beruhigte. Nimmermehr. Dieses liebliche Licht, es leuchtet mir nicht [mehr]. Alle Lieblichkeit ist mir Schmerz. Ausgestattet mit hoher Empfindungsgabe, fehlt es mir an der einfachen Kraft mich zu freuen; verdammt bin ich, höchst raffiniert und bösartig!, verdammt inmitten des Paradieses.“ (Ahab in Kap. 37, Sonnenuntergang)

Dieses in hohem Maße aussagekräftige Zitat wurde oben bereits in Teilen besprochen. Ahab beklagt darin, dass ihm das „liebliche Licht“ nicht mehr leuchte, er ist – im altägyptischen Kontext gesprochen – aus der Gegenwart des Sonnengottes ausgeschlossen und damit dem endgültigen Tod überantwortet. Folgerichtig empfindet Ahab sich als Verdammter und erkennt, dass seine Strafe „inmitten des Paradieses“ stattfindet, eine Vorstellung, die dem altägyptischen Jenseitskonzept entspricht, nicht aber dem christlichen, dass beide Sphären (Himmel und Hölle/Fegefeuer) streng voneinander trennt.

Textbeispiel: Wale, Paradies (Hervorhebungen sind meine)

[...] nordostwärts steuernd, stießen wir auf gewaltige Wiesen von Krill […]. Meilen um Meilen umwogte er uns, so dass wir grenzenlose Felder von reifem und goldenem Weizen zu durchsegeln schienen. (Kap. 58, Krill)

Auch dieses Zitat wurde oben bereits besprochen. Das Bild der „grenzenlose[n] Felder von reifem und goldenem Weizen“ entspricht eins zu eins dem Inbegriff der altägyptischen Paradiesvorstellung, die sich in den sogenannten Wernesgefilden umgesetzt findet. Dort stehen dem Verstorbenen üppige Ackerflächen zur Verfügung, die stets reichen Ertrag erbringen und ihm ein Leben im Überfluss gestatten.

Textbeispiel: Verdammte (Hervorhebungen sind meine)

[...] fanden wir uns in diese aufgewühlte See geworfen, wo schuldige Wesen, in diese Vögel und jene Fische verwandelt, dazu verdammt schienen, auf immer und ewig weiterzuschwimmen ohne Aussicht auf einen sicheren Hafen, oder jene schwarze Luft zu schlagen ohne irgendeinen Horizont. Doch ruhig, schneeweiß und unwandelbar [...] wurde zuzeiten der einsame Blas ausgerufen. (Kap. 51, Der Geisterblas)

Dass es in diesem Zitat um Verdammte geht, ist aus der Formulierung „schuldige Wesen“ ableitbar. Fische und Vögel, naheliegend für den maritimen Kontext, sind darüber hinaus aber auch für die ägyptologisch bestimmte Interpretation des Textes von höchstem Interesse, denn Vertreter dieser beiden Tiergruppen werden in der hieroglyphischen Schreibung der Wörter „Seele“ und „Körper“ verwendet (Abb. 3). Es ist typisch für die altägyptische Darstellung von jenseitigen Strafszenen, dass die einzelnen Persönlichkeitsanteile des Verstorbenen in Text und Bild benannt und einzeln ihren Strafen zugeführt werden (so soll die Umfänglichkeit der Bestrafung zum Ausdruck kommen).

 

Abb. 3 Hieroglyphische Schreibweise und Umschrift der Wörter ba (~ Seele) und ẖat (Körper).

 

Textbeispiel: Strafort (Hervorhebungen sind meine)

Gleich einem [...] brennenden Märtyrer [...] liefert der Wal, wenn erst einmal entfacht, seinen eigenen Brennstoff und verbrennt durch seinen eigenen Leib. [...] sein Rauch ist scheußlich einzuatmen [...]. [...] er ist ein Nachweis für die Hölle. [....] Mit gewaltigen gezinkten Stangen stießen sie [die Seemänner] die zischenden Speckmassen in die Kessel oder schürten das Feuer darunter. [....] Ein starres, bestürzendes Gefühl wie das von Todesnähe überkam mich. (Kap. 96, Die Trankocherei)

Die hier beschriebene Szene könnte praktisch unverändert als Bildbeschreibung zu Szenen aus den Unterweltsbüchern herangezogen werden, wie sie z. B. in der 11. Nachtstunde des Amduat beschrieben sind. Dort schüren Strafdämonen die Feuer unter den Kesseln, in denen die Verdammten zu sehen sind, und sorgen mit Speeren o. ä. Gerätschaften dafür, dass nichts aus den Kesseln entkommen kann.

 

Urgrund der Schöpfung

Der Urgrund der Schöpfung, das uranfängliche Chaos, bleibt nach der Erschaffung der Welt aus Sicht der alten Ägypter von zentraler Bedeutung als Quelle und Garant der Erneuerung nicht nur des Schöpfergottes selbst, sondern auch seiner gesamten Schöpfung. Allgemein gesprochen finden Vorstellungen von der Welt vor der Schöpfung häufig Ausdruck in bestimmten Landschaftsformen, so z. B. den offenen Meeren. Sie entsprechen „einem mythischen Urbild“ und werden mit „dem Chaos verglichen, sie nehmen noch teil an der undifferenzierten, ungeformten Seinsart aus der Zeit vor der Schöpfung“ (M. Eliade, Kosmos und Geschichte, 1994). Diese mythischen Orte in Besitz zu nehmen – im Falle des Meeres, es zu befahren – bedeutet, „in symbolischer Form den Schöpfungsakt [zu] wiederholen“ (ebd.). Gleiches gilt in überhöhter Weise für den Sieg über dort hausende Ungeheuer: ihre Überwindung entspricht der Rückdrändung des Chaos am Anfang der Schöpfung. Ein Beispiel für die Umsetzung des primordialen Charakters des Meeres in Moby-Dick findet sich z. B. in Kap. 93, „Der Verstoßene“, in dem der Ich-Erzähler vom Überbordgehen des Schiffsjungen Pip berichtet.

Textbeispiel: Welt der Götter (Hervorhebungen sind meine)

Vielmehr [hatte das Meer Pips Seele] lebendig in wundersame Tiefen hinabgetragen, wo seltsame Schemen aus der unverstellten Urwelt vor seinen [...] Augen hin- und herglitten; und der geizige Meermann Weisheit ihm seine gehorteten Halden enthüllte; und Pip inmitten der freudenvollen, herzlosen, auf immer jungen Ewigkeiten die unzähligen, Gottallgegenwärtigen Korallinsekten entdeckte, welche aus dem Firmament der Wasser die riesenhaften Kreisbahnen emporstemmten. Er sah Gottes Fuß auf dem Trittholz des Webstuhls [...]. (Kap. 93, Der Verstoßene)

Eine genauere Analyse dieses Zitats zeigt signifikante Übereinstimmungen mit Motiven der altägyptischen Mythologie (Tab. 2).

 

Tab. 2 Zitate aus der Beschreibung von Pips Überbordgang (linke Spalte) und ihre Deutung im altägyptischen Kontext (rechte Spalte)

 

Textbeispiel: Schöpfungsmoment (Hervorhebungen sind meine)

Stille herrschte über dem zuvor stürmischen, doch nun verlassenen Deck. Eine ernsthafte, kupferrote Ruhe, wie ein weltumspannender gelber Lotos, entfaltete Stück für Stück seine lautlosen Blätter über dem Meer. (Kap. 70, Der Sphinx)

Thema dieser Textstelle ist der initiale, sich jeden Morgen wiederholende Schöpfungsmoment, der einfühlsam mit Bildmotiven aus dem altägyptischen Kontext beschrieben wird. Tab. 3 erläutert die kursiv gesetzten Passagen im Kontext einer altägyptisch geprägten Deutung des Textes.

 

Tab. 3 Zitate aus dem Kapitel „Der Sphinx“ (Kap. 70) mit Erläuterungen (rechte Spalte).

 

Die oben besprochenen Textbeispiele zeigen, dass Moby-Dick nicht nur die sich wandelnden Jenseitsvorstellungen des Alten, Mittleren und Neuen Reiches adaptiert, sondern dass die Fahrt der Pequod darüber hinaus Stationen der Nachtfahrt des Sonnengottes abbildet und in den Kontext des Primärtextes einwebt. Melvilles Text erfährt dadurch insgesamt eine Betonung der mythologischen Bild- und Textelemente, die dazu führt, dass die Handlungen transzendiert und selbst zu einem Text- und Bildausdruck des mythischen Geschehens werden.

 

 

Weiterführende Literatur

Schmidt, K., Melvilles Moby-Dick als altägyptische Seelenreise
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-18174-4

Schmidt, K., Altägyptische Motive in Herman Melvilles Moby-Dick
Norderstedt: BoD, 2010
ISBN: 978-3-839-16374-0

 

⇒ 5 Zeit- und Raumkonzepte in Moby-Dick und im alten Ägypten